„Entdeckt und gestaltet diese Welt mit großem Vertrauen, ausdauernder Hoffnung und verschwenderischer Liebe.“

Das Abitur haben die meisten erfolgreich bestanden, einige Schulen bereits feierlich die Zeugnisse vergeben. Auf vielen Feiern wurden Reden gehalten. Eine dieser Reden an die diesjährigen Abiturient*innen möchten wir hier veröffentlichen. Sie stammt von Uli Marienfeld, dem ehemaligen stellvertretenden Schulleiter der Evangelischen Schule Zentrum. Der Tagesspiegel hat den mutmachenden Text am 6. Juli veröffentlicht.  

Uli Marienfeld bei seiner Rede an die Abtiurient*innen 2024, Foto:Michael Oryan

Liebe Abiturient*innen,

als ihr geboren wurdet, war die Welt noch in Ordnung – zumindest dachten das viele damals. 15 Jahre vor eurer Zeitrechnung war die Mauer gefallen. 2001 wurde die Rede von Wladimir Putin im Deutschen Bundestag bejubelt. Man war geneigt zu glauben, dass wir in Europa friedlichen Zeiten entgegengehen. Die USA hatten seit 2009 mit Barack Obama einen jungen charismatischen Präsidenten. Seine Frau Michelle hat einmal wunderbar formuliert: „Don’t ever make decisions based on fear. Make decisions based on hope and possibility.“

Und dann war da noch der 9. Januar 2007. Ihr wart im Krabbelalter. An diesem Tag wurde etwas angekündigt, dessen globale Wirkung kaum jemand ahnen konnte. Steve Jobs stellte das erste iPhone vor. Heute ist eine Welt ohne Smartphones kaum vorstellbar. Mobilfunktelefone mit Tasten gab es schon vorher. Aber nun gab es eine berührungsempfindliche Oberfläche – darauf werde ich später noch zurückkommen.

Heute, 2024, feiern wir euer Abitur! Welche Freude! Viele haben gelernt. Alle haben es geschafft! Dabei habt ihr in den letzten Jahren ganz sicher nicht nur Schönes erlebt. Die Pandemie hat eure jugendliche Freiheit lange Zeit sehr eingeschränkt. Euer Freund Admasu starb vor zwei Jahren beim Absturz eines Helikopters. Es ist Zeichen eurer Stärke, dass ihr euch ein Jahr später im Schulhof mit einem Kasten Club Mate – seinem Lieblingsgetränk – getroffen habt, um seiner zu gedenken. Vieles in unserer Welt tut weh: Der seit langem tobende Krieg in der Ukraine, das Massaker der Hamas am 7. Oktober, das ungezählte Leid der Menschen in Gaza und Israel seither, anhaltende Bürgerkriege in Syrien und dem Sudan – eine friedliche Welt sieht anders aus.

Ihr seid herausgefordert einen Weg zu finden, wie ihr die Schmerzen und Bedrohungen wahrnehmen könnt und euch trotzdem einen Blick für das Schöne bewahrt.

Die Holocaust-Überlebende Edith Eger schreibt: „Hoffnung ist keine Ablenkung von der Dunkelheit. Es ist eine Konfrontation mit der Dunkelheit. Hoffnung ist eine Investition in Neugier.“ Vielleicht beschreibt der Begriff Ambiguitätstoleranz diese Haltung am besten.

Spannungen aushalten können: Klimawandel, Kriege, gesellschaftliche Veränderungen, die uns an die 1920er Jahre erinnern. Dies wachsam zu sehen und den Blick für das Schöne nicht zu verlieren.

Spannungen unterschiedlicher Wahrnehmungen und Gefühle aushalten können. Es ist nicht gut, alles schönzureden. Wut und Zorn haben einen Platz in unserer unperfekten Welt.

Spannungen unterschiedlicher Sichtweisen anderer Menschen akzeptieren, sich lernen gemeinsam zu streiten – füreinander zu streiten – Konformismus vermeiden.

Oft kann man sehr unterschiedliche Positionen einnehmen. Gibt es heute überhaupt noch absolute Werte? Ich hoffe, wünsche mir und werde dafür kämpfen, dass über alle Meinungen hinweg der Artikel 1 unseres Grundgesetzes Konsens ist beziehungsweise endlich verwirklicht wird. Die Würde des Menschen ist unantastbar!

Manche sagen, dass dies dem christlichen Menschenbild entspricht, da der Mensch im Ebenbild Gottes geschaffen wurde. Die theologische Aussage ist richtig. Aber die Kirchengeschichte erzählt leider auch viel anderes: Kreuzzüge, Inquisition, Sklavenhandel, Schweigen und Mittäterschaft in der NS-Zeit, Rassismus, patriarchale Machtstrukturen, die Ausgrenzung queerer Menschen bis in die Gegenwart – die Negativliste ist viel zu lang.

Ich bin dankbar dafür, dass wir Kirche zunehmend als menschenfreundlich verstehen. Es geht nicht mehr darum, Antworten auf nie gestellte Fragen zu postulieren, sondern sich verletzlich und mitfühlend der Unverfügbarkeit des Lebens zu stellen.

Die Thora im Judentum und die Schriften der frühen Christen sind voll von unglaublich befreienden Erzählungen:

  •     Ein versklavtes Volk, das durch ein sich teilendes Meer gerettet wird.
  •     Eine Stadtmauer, die in sich zusammenfällt, nachdem sie siebenmal musikalisch umkreist wurde.
  •     Eine Prostituierte, die Spione versteckt, und später im Stammbaum des Christus genannt wird.
  •     Ein Hirtenjunge, der mit seiner Schleuder einen schwerbewaffneten Elitesoldaten tötet.
  •     Ein in der Provinz unehelich Geborener, der auf dem Wasser geht, Kranke heilt und so redet, als ob uneingeschränkt alle Menschen Gottes geliebte Kinder sind.
  •     Und dieses unsterbliche Gerücht, dass es einen gab, der den Tod überwunden hat.

Erzählungen, die jenseits jeglicher Dogmatik dazu einladen, erwartungsvoll sich dem entgegenzustellen, was die vermeintlich harten Fakten des Lebens zu sein scheinen.

Ihr werdet noch viele verschiedene Menschen kennenlernen. Dafür wünsche ich euch Offenheit, Neugier und den Blick auf die Würde, die jeder dieser Menschen in sich trägt.

Neben den vielen neuen Begegnungen möchte ich – mit Edith Eger – an etwas anders erinnern: „Denkt daran. Ihr habt etwas, was niemand anders jemals haben wird. Ihr habt euch selbst! Ein Leben lang.“ Seid freundlich zu euch. Lächelt das Gesicht an, das euch morgens aus dem Spiegel entgegenschaut. „Wenn ihr mit euch allein nicht glücklich seid, werdet ihr mit niemandem glücklich sein.“ Ihr habt die Freiheit, zu wachsen und euch zu verändern. Entdeckt, wer ihr seid. Werdet, wer ihr seid.

Abschließend möchte ich noch einmal auf das iPhone zurückkommen und seine berührungsempfindliche Oberfläche. Mir ist klar, dass die Unmenge an Bildern und Zeichen, die wir empfangen und senden, uns oft kaum berühren. Die digitale Welt überflutet uns mit Informationen und Desinformationen. Aber was davon dringt wirklich durch die Oberfläche?

Es gibt so viel mehr, als ihr bisher kennt. Möge eure Neugier immer größer sein als euer vermeintliches Wissen. Geht hinaus! Entdeckt und gestaltet diese Welt mit großem Vertrauen, ausdauernder Hoffnung und verschwenderischer Liebe.

Eine Berührung ist etwas ganz Besonderes. Eine Berührung der Haut geschieht ganz sanft. Und sie kann doch tiefer dringen als nur an die Oberfläche. Das sanfte Streicheln der Hand, eine zärtliche Umarmung, vielleicht auch ein wohlwollendes Lächeln oder ein mitfühlendes Wort. Leo Buscaglia hat es so formuliert: „Too often we underestimate the power of a touch, a smile, a kind word, a listening ear, an honest compliment, or the smallest act of caring, all of which have the potential to turn a life around.“

Oft sind es die kleinen Dinge, die sanften Berührungen.

In Irland spricht man von „thin places“ – den besonderen Orten, an denen sich Himmel und Erde, Sichtbares und Unsichtbares berühren. Ich wünsche euch, dass ihr solche Orte immer wieder entdecken könnt. Situationen und Orte, in denen nicht das laute Geschrei des angeblich Unvermeidbaren dominiert, sondern sich in Stille und Beharrlichkeit ungeahnte Möglichkeiten eröffnen.

Es geht nicht darum, Gefahren und Schmerz zu leugnen, aber sie brauchen uns nicht zu determinieren. Es tut gut, sich immer wieder nach mehr auszustrecken, als man bisher erfahren und erlebt hat. Harry Anderson hat gesagt: „Even a fool knows you can’t touch the stars, but it won’t keep the wise from trying.“ Es gibt so viel mehr, als ihr bisher kennt. Möge eure Neugier immer größer sein als euer vermeintliches Wissen. Geht hinaus! Entdeckt und gestaltet diese Welt mit großem Vertrauen, ausdauernder Hoffnung und verschwenderischer Liebe.

Gott segne euch!

Uli Marienfeld, ehemaliger stellvertretender Schulleiter der Evangelischen Schule Berlin-Zentrum

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