Nach 1,5 Jahren: Projekt „Schule ohne Grenzen“ zieht positive Bilanz

Im August 2021 starteten die August Hermann Francke Schule und die Evangelische Schule Spandau das innovative inklusive Schulprojekt „Schule ohne Grenzen“ in einem neu gebauten barrierefreien Schulgebäude. Der Unterricht und die Räume sind an die Bedürfnisse der Kinder angepasst. Denn hier lernen Kinder mit und ohne Beeinträchtigung gemeinsam.

Gemeinsam mit- und voneinander lernen
Jeden Mittwoch findet in einer 6. Klasse der Evangelischen Schule Spandau und einer Klasse der Mittelklassenstufe der August Hermann Francke Schuleplanmäßig gemeinsamer Unterricht im Reinhard-Lange-Haus statt. Das ist der Name des Neubaus auf dem Gelände des Evangelischen Johannesstifts in Berlin-Spandau, der für das Projekt „Schule ohne Grenzen“ errichtet wurde.  Das Haus selbst gehört der Stiftung Evangelisches Johannesstift, die es mithilfe vieler Spender*innen und Fördermittelgeber*innen bauen lassen konnte. Neben der Lotto-Stiftung war Reinhard Lange ein wichtiger Unterstützer des Projekts. 

Gemeinsam mit- und voneinander lernen: Im inklusiven Projekt „Schule ohne Grenzen“ ist das seit August 2021 Alltag.

An diesem Morgen beginnt der Unterricht im Reinhard-Lange-Haus mit Bilderkarten, mit deren Hilfe fünf gemischte Gruppen gemeinsam je eine Wintergeschichte erfinden sollen. „Such mal eine Karte aus!“, fordert der Lehrer Herr Z.*Mohamad auf. Der Junge im Rollstuhl kann nicht mit den Fingern auf die Symbole zeigen, deshalb achtet der Lehrer auf seine anderen Reaktionen und fragt: „Die Karte mit der Straßenbahn? Ist das die, die du möchtest?“ Mohamad lacht. Herr Z. deutet das als ein Ja. Für die Mädchen am Tisch ist das das Signal, mit dem ersten Satz ihrer Wintergeschichte loszulegen. „Ich fuhr mit der Straßenbahn, während es doll schneite“, schreibt eines von ihnen auf.

Sechs solcher Partnerklassen lernen im Rahmen des besonderen Raumkonzepts des Schulgebäudes zusammen. Kern des Raumkonzepts sind Klassenräume mit verbindenden Inklusionszimmern, so dass gemeinsamer, aber auch separater Unterricht in den angrenzenden Räumen möglich ist.

Die Zusammenarbeit ist seit Jahren erprobt: Die Evangelische Schule Spandau, Grundschule und Integrierte Sekundarschule mit gymnasialer Oberstufe, und die August Hermann Francke Schule, Förderzentrum für Kinder und Jugendliche von sechs  bis 18 Jahren mit den Förderschwerpunkten geistige und körperliche-motorische Entwicklung, arbeiten bereits seit 2009 zusammen. Seit Sommer 2021 nutzen die Schulen nun gemeinsam das barrierefreie Gebäude. Ein Leuchtturmprojekt mit einem an die Bedürfnisse der Kinder angepasstem Klassenraumkonzept, einer Aula, einem großen Pausenhof mit Spiel- und Klettermöglichkeiten sowie mehreren Innenhöfen. Gemeinsamer Unterricht steht regelmäßig auf dem Stundenplan. 

Mitmachen entsprechend der eigenen Möglichkeiten
Eine Pädagogin hat sich im gemeinsamen Wintergeschichtenprojekt inzwischen neben Henry gesetzt, einen Jungen, der wie Mohamad im Rollstuhl sitzt und die Geschichte weitererzählen soll. „Wie soll die Straße denn heißen?“ wird Henry von Paul gefragt, Schüler der Evangelischen Schule Spandau. Die anderen Kinder folgen daraufhin gespannt und geduldig Henrys langsamer und leiser Antwort. „Straßenallee? Soll die Straße so heißen?“, wiederholt Paul. Henry bejaht und die anderen jubeln. Wieder ist ein Satz fertig; die Geschichte wächst und die Kinder strahlen vor Stolz.  

Zeit für Herrn Z., Lehrer der August Hermann Francke Schule, vorzulesen, was bis jetzt auf dem Zettel steht. „Ich fuhr mit der Straßenbahn, während es sehr doll schneite. Als ich ausstieg, traf ich ein cooles Mädchen.“ Mohamad, der den ersten Impuls für die Geschichte gab, jubelt besonders bei der Stelle mit dem „coolen Mädchen“ – auf der entsprechenden Symbolkarte als blauhaariges Kind dargestellt.  Als nächstes soll ein zugefrorener See Teil der Geschichte werden, entscheidet er. Die drei Mädchen am Tisch haben schon eine Idee, wie sie auch diesen Vorschlag umsetzen können.

Der gemeinsame Unterricht ist an die Bedürfnisse aller Kinder angepasst. Fotos: Frank Woelffing

Zum Ende der Stunde geht Frau D., Klassenlehrerin der 6. Klasse der Evangelischen Schule, von Tisch zu Tisch: „Wir haben nur noch ein bisschen Zeit. Überlegt euch schon mal, wer von euch die Geschichte gleich vorlesen wird.“

Gemeinsamkeit beider Lehrpläne als Grundlage für Inklusionsstunde
Die Fenster im Inklusionsraum der beiden Klassen lassen trotz regnerischen Wetters viel Licht herein, die Wände sind teilweise mit hellem Holz verkleidet, gemütliche Sitzecken lockern den Raum auf. An den Wänden hängen Poster von verschiedenen Systemen des menschlichen Körpers; ein Projekt der Kinder der Evangelischen Schule, das hier auch die Kinder der August Hermann Francke Schule begutachten können.

„Auch die Wintergeschichten stellen wir hier später hier aus“, berichtet Frau D.. In ihrem gemeinsamen Unterricht achten sie und ihr Kollege Z. darauf, dass die Inhalte den Lehrplänen beider Klassen entsprechen: Themen sind zum Beispiel die wechselnden Jahreszeiten, Weihnachten, Waldtiere oder die Natur. Ergänzend gibt es gemeinsame Projekte aller Inklusionsklassen. Die Lehrerin sagt: „Aktuell planen wir ein Marienkäferzuchtprojekt, das nach Ostern startet.“ Auch besondere Ereignisse wie Einschulungen oder Feste planen die Schulen gemeinsam.

Einfachere Zusammenarbeit und natürliche Treffen
Etwa eine Stunde haben die Teams pro Woche Zeit für gemeinsame Absprachen und Planungen des Unterrichts, erzählt Frau D.. Hinzu kommt die Zeit für die individuelle Vorbereitung. Regelmäßig treffen sich die Kolleg*innen beider Schulen, die aktiv am Inklusionsprojekt mitarbeiten. Und einmal im Jahr veranstalten alle Kolleg*innen beider Schulen gemeinsam einen Studientag.

Durch das neue Schulgebäude seien spontane Absprachen zwischen den Lehrer*innen einfacher geworden, so die Lehrerin weiter. Und auch bei den Schüler*innen habe sich über die eineinhalb Jahre im gemeinsamen Gebäude durch die täglichen Begegnungen auf den Fluren und Schulhöfen, in den Klassen- und Inklusionsräumen, bei den Ausflügen und in den Projekten ein selbstverständliches Miteinander entwickelt.

In der gemeinsamen Deutschstunde ist die Zeit zum Geschichtenschreiben inzwischen beendet. Jetzt lesen die Kinder der Evangelischen Schule Spandau vor, was sie sich alle zusammen ausgedacht haben. Auch Henry präsentiert mit. Er nennt die Begriffe der Karten selbst. Das coole Mädchen darf – zur Freude von Mohamad ­– dabei natürlich nicht fehlen.

Träger der Schulen sind Johannesstift Diakonie Proclusio und die Evangelische Schulstiftung in der EKBO. Die Johannesstift Diakonie Jugendhilfe betreibt den Hort (eFöB). Das Bildungsprojekt „Schule ohne Grenzen“ wird im engen Austausch mit der Humboldt Universität zu Berlin wissenschaftlich begleitet. Im Fokus stehen vor allem die Raum- und die Lernsituation sowie der Fachunterricht.

*Namen aller Protagonisten redaktionell verändert

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